Was bisher geschah
Mit Urteil vom 4. Juli 2019 (C-377/17) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) zunächst entschieden, dass die Mindest- und Höchstsätze der HOAI gegen die Dienstleistungsrichtlinie (2006/123 EG) der Europäischen Union verstoßen. Das hatte den deutschen Gesetzgeber dazu veranlasst, die HOAI 2013 zu novellieren. Die HOAI 2021 beinhaltet deshalb für die Honorare in seit dem 01.01.2021 geschlossenen Architekten- und Ingenieurverträgen nur noch unverbindliche Empfehlungen für Mindest- und Höchsthonorare, aber kein zwingendes Preisrecht mit Mindest- und Höchstsätzen mehr. Zudem war klar, dass bei vorher geschlossenen Verträgen der öffentlichen Hand mit Architekten das zwingende Preisrecht keine Anwendung finden kann („vertikale Direktwirkung“ der Richtlinie).
Das Problem
Ob das Preisrecht der HOAI aber auch bei vor dem 01.01.2021 geschlossenen „Altverträgen“ zwischen Privaten, z. B. gewerblicher Projektentwickler gegenüber Architekt, unangewendet bleiben muss („horizontale Direktwirkung“ der Richtlinie), war heftig umstritten. Der Bundesgerichtshof (BGH) legte diese Frage dem EuGH vor (Beschl. V. 14.07.2020 – Az. VII ZR 174/19).
Die große Überraschung
Mit Urteil vom 18 Januar 2022, Az. C-261/20, ist es endlich entschieden: Gerichte dürfen die unionsrechtswidrige Mindestsatzregelung der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) im Rechtsverkehr zwischen Privaten auf „Altfälle“ weiterhin anwenden.
Der EuGH begründete seine Entscheidung damit, dass die vorliegende EU-Dienstleistungsrichtlinie, so wie jede andere EU-Richtlinie auch, einen eingeschränkten Geltungsbereich habe und zunächst ausschließlich die Mitgliedstaaten binden. Im Verhältnis der Privaten untereinander entfalte sie mithin keine Wirkung.
Die Entscheidung lässt damit – zur Überraschung vieler Experten – sog. Mindestsatzklagen / Aufstockungsklagen von Architekten und Ingenieure zu. Diese können abweichend von der im Vertrag vorgesehenen (Pauschal-) Vergütung den höheren Mindestsatz anhand der (ggf. erhöhten) anrechenbaren Kosten geltend machen.
Besonders spannend …
… ist, dass der EuGH in seiner Entscheidung ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass ein Privater – also hier der Auftraggeber, z. B. ein Projektentwickler oder Bauträger –, der durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht geschädigt wird, Schadensersatzansprüche gegen den Mitgliedstaat (hier die Bundesrepublik Deutschland) geltend machen kann. Denn die Bundesrepublik Deutschland ist nach geltendem Unionsrecht verpflichtet, keine gegen das Unionsrecht verstoßenden nationalen Regelungen zu beschließen oder aufrechtzuerhalten. Andernfalls hat der Einzelne nach ständiger Rechtsprechung des EuGH (Francovich u. a., Urt. v. 19. November 1991, C‑6/90 und C‑9/90, EU:C:1991:428), einen Anspruch auf Schadensersatz gegen den Mitgliedsstaat selbst. Der EuGH betrachtet die Voraussetzungen eines solchen Anspruchs vorliegend als gegeben.
Kurz gesagt: die durch Mindestsatzklagen in Anspruch genommenen Bauherrn, Projektentwickler, Bauträger usw. können nun also im Regressweg vom Bund Schadensersatz fordern, weil er die HOAI schon früher hätte novellieren müssen. Damit rollt eine Klagewelle auf den Bund (und den Steuerzahler) zu.
Dabei stellen sich haftungsrechtlich spannende Fragen:
- Sind Ansprüche gegen den Bund, die vor dem 01.01.2019 entstanden sind, verjährt?
- Wie bemisst sich der Schaden? Kann neben den frustrierten Prozesskosten gegen den Architekten auch die Differenz zwischen vereinbarter Vergütung / Pauschale und Mindestsatz vom Bund gefordert werden?
- Darf sich der Bund gegenüber Mindestsatzklagen von Architekten und Ingenieuren auf die Unwirksamkeit der von ihm selbst geschaffenen und nicht novellierten HOAI berufen?